Neues Gutachten: Risiken und Auswirkungen eines Brandes bei Stuttgart 21

Stuttgart-21-Brandschutzgutachten, 2. Auflage, Webauflösung

Gutachten Heydemann/Engelhardt zum Brandschutz bei Stuttgart 21 – in Stichworten

Tiefbahnsteighalle

  • Schon im normalen Betrieb ist der Tiefbahnhof zu eng:  Im S21-Tiefbahnhof reduziert sich die Bahnsteigfläche um ein Drittel. Neben den zentralen Treppenaufgängen sind nur 2,05 m Platz bis zur Bahnsteigkante. Die Untersuchungen der DB offenbarten zwar das gefährliche Gedrängel. Der Öffentlichkeit wurden aber 61 Engpässe verschwiegen, die sich trotz zu günstig gewählter Eingangsparameter als zu eng erwiesen hatten.
  • Fluchttreppen: zu steil und mit nur 26 cm Stufenbreite ohne ausreichende Trittfläche. Viele Mobilitätseingeschränkte würden auf  Aufzüge angewiesen sein, die jedoch im Brandfall außer Betrieb bleiben.
  • Rauchabdrängung in der Tiefbahnhofhalle funktioniert nicht. Die aus den Tunneln in die Tiefbahnsteighalle eingeblasene Zuluft zum Abdrängen des Rauches über die Lichtaugen trifft – wegen der großen Entfernung der Zuluftanlagen von rd. 2 km bis zur Tiefbahnsteighalle – erst nach bis zu 20 Minuten ein, wird also während der für die Rettung entscheidenden ersten 15 Minuten keine Rauchabdrängung bewirken können. Die Verrauchung wird viel schneller erfolgen, als die Menschen fliehen können.
  • Deutlich mehr Menschen zu evakuieren als unterstellt. Der Leistungsnachweis oder auch nur das heutige Angebot, sind ohne Doppelbelegungen (Halt zweier Züge hintereinander) nicht darstellbar. Diese bringen 6.914 Personen auf den Bahnsteig, je 3.457 Personen zwischen die Engpässe der Nord- und Südhälfte des Bahnsteigs, das sind dort 2,3-mal mehr Menschen als im Brandschutzkonzept der DB. Hunderte Passagiere würden vom Rauch eingeholt und ersticken.

Tunnel

  • Stark verengten Sonderquerschnitt auf über der Hälfte der Strecken. Im Brandschutzkonzept wird dennoch nahegelegt, dass nach 11 Minuten die Evakuierung abgeschlossen wäre. Dies ist bei 1.757 Personen pro Zug und bei 500 m auseinander liegenden Rettungsstollen mit nur 2 m breiten Öffnungen in der Realität jedoch nicht erreichbar. Grund sind vor allem die bei S21 sehr engen Fluchtwege von 1,2 m Breite, die darüber hinaus durch Einbauten stellenweise auf 0,9 m verengt werden.
  • Abstand der Rettungsstollen unzureichend: Der Abstand der Rettungsstollen und die Rettungswegbreite erfüllen gerade eben die Mindestanforderungen. Vorgabe der Richtlinien ist jedoch, dass die Parameter im Zweifelsfall sicherer gewählt werden müssen, so dass ein funktionierendes Rettungskonzept nachgewiesen werden kann. Das ist bei S21 nicht möglich.
  • Keine Werkfeuerwehr vorgesehen: Angesichts der spezielle Risikosituation von Stuttgart 21 ist der Aufbau einer Werkfeuerwehr mit mindestens 61 Hauptamtlichen erforderlich. Kosten rund 8,54 Mill Euro pro Jahr.
  • Niedrigster Sicherheitsstandard im internationalen Vergleich. Bei einem Ranking internationaler vergleichbaren Tunnelprojekte, gemessen an den Schlüsselparametern Rettungswegbreite, Querschlagabstand, Tunnelquerschnitt, Personenzahl in den Zügen und Gefälle (das die Rauchausbreitung begünstigt) nimmt Stuttgart mit Abstand den letzten Platz ein. Allein dieser Vergleich mit internationalen Projekten wirft gravierende Zweifel an der Plausibilität des S21-Tunnelbrandschutzes auf.

An mehreren Stellen werden offenkundig die bestehenden Richtlinien nicht eingehalten:

  • Die Mindestbreite bei den Durchgängen in der Tiefbahnsteighalle zu gering.
  • Für die Entfluchtung werden in kritischen Bereichen bis zu 2,3-mal weniger Personen angesetzt als vorgeschrieben.
  • Der Nachweis der „Machbarkeit“ als Maßstab des Planfeststellungsverfahrens ist nicht erfüllt. Es wurde nicht gezeigt, dass gleichzeitig die geforderte Leistung erbracht und der Brandschutz gewährleistet werden kann.
  • Evakuierungszeiten für die Tiefbahnsteighalle unzutreffend ermittelt: Die Personendichte im Gedränge vor den Engstellen wurde nicht untersucht; diese überschreitet offensichtlich die „Gefährdungsgrenze“ von 6 Pers./m².
  • Die Forderung von sechs Behinderten-Verbänden nach verbesserter Sicherheit für mobilitätseingeschränkte Personen hat des EBA als unbegründet zurückgewiesen.
  • Die Entrauchung der Tiefbahnsteighalle mittels Frischluft aus den Tunneln ist wegen der großen Zeitverzögerung, aber auch wegen grundlegender technischer Unzulänglichkeiten untauglich. Die erforderliche Rauchabsaugung über Absaugtürme auf dem Schalendach der Tiefbahnsteighalle ist aus statischen Gründen nicht möglich.
  • Die Mindestbreiten für die Fluchtwege und der Höchstabstand für die Querschläge erfüllen nicht die Kernanforderung eines funktionierenden Rettungskonzepts.

Offener Brief von Aktionsbündnissprecher Eisenhart von Loeper an Ministerpräsident Winfried Kreschmann

Der Ministerpräsident des Landes Baden Württemberg
Herr Winfried Kretschmann
Richard-Wagner-Str. 15
70184 Stuttgart

31. März 2014

Ihr Schreiben vom 27. März 2014 an die Mitbürgerinnen und Mitbürger

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Kretschmann,

lassen Sie mich hinsichtlich Ihres Schreibens vom 27. März 2014 mit dem positiv Dankenswerten beginnen: Sie haben viele Jahre auf der Seite der Stuttgart-21-Gegner gekämpft und Sie bekennen sich dazu, dass die Landesregierung trotz des gewaltig gesprengten Kostendeckels keinen Teil der Mehrkosten übernehmen wird. Doch den Kampf gegen Stuttgart 21 unter Berufung auf Verfassung und Demokratie verloren zu geben, erscheint den S 21-Gegnern, mit denen ich zusammenarbeite, trügerisch und unredlich:

Was die Einschätzung der Volksabstimmung vom 27.11.2011 betrifft, hinter die Sie sich zurückziehen, empfinde ich Ihre Aussagen als ein Bemühen um Vernebelung. So hatten Sie doch noch mit Ihrem Schreiben vom 2. Januar 2013 an den Vorsitzenden des Aufsichtsrats der DB AG, Herrn Prof. Felcht, treffend daran erinnert, „dass die Bahn selbst und die Befürworter des Projekts im Abstimmungskampf zu der Volksabstimmung … versichert hatten: Für S 21 sei ein Finanzierungsrahmen von bis zu 4,526 Milliarden Euro vertraglich vereinbart. Darin enthalten sei ein Risikopuffer für eventuelle Preissteigerungen und unvorhergesehene Entwicklungen am Bau.“ Und zu der am 12.12.2012 bahnseits eingestandenen Kostensprengung um – damals – bis zu 2,3 Milliarden Euro erklärten Sie, es sei „kaum vorstellbar, dass man solche exorbitanten Mehrkosten und Risiken ganz plötzlich innerhalb nur eines Jahres entdeckt.“

Die Spur des Bahnbetrugs reicht in der Tat zurück auf das Spätjahr 2009, als bahnseits wissentlich 891 Millionen Einsparpotentiale behauptet wurden, um das sonst kündbare Projekt zu retten (siehe dazu das neue Bürgerbegehren Storno 21, das ich als Ihnen bekannt voraussetzen darf). Mit Bahndokument vom 12.12.2012 hat sich diese Zahl als „Kalkulationsdifferenz“ für „nicht budgetierte Leistungen“ und „nicht realisierbare Planansätze“ – als Schuld eingestanden – auf 1,1 Milliarden Euro erhöht. Die gleichfalls bahnseits verheimlichten Berechnungen des früheren Projektleiters Hany Azer vom März 2011 und die Kostenermittlung des Bundesrechnungshofs von 2008 über 5,3 Mrd. Euro bestärken den Vorwurf. Weder die Kostenlüge noch die Leistungslüge der Bahn-Verantwortlichen lassen sich durch die Volksabstimmung vom 27.11.2011 vertuschen.

Dies ist unseriös: Zwar ist gemäß Ihrem o.g. Schreiben nicht zu leugnen, dass S 21-Gegner im Abstimmungswahlkampf auf die drohende Kostenexplosion hingewiesen haben. Aber es ist doch ein himmelweiter Unterschied, ob diese Frage heftig umstritten oder – seit dem 12.12.2012 – ein unstreitiges Faktum ist. Daran ist im Verfahren selbst ein Gericht gebunden (vgl. § 287 ZPO). Das hat rechtlich gesehen weitergehende, schwerwiegende Folgen der „Clausula rebus sic stantibus“ im Sinne des bekannten „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“. Das lässt sich eindringlich belegen:

  1. Sogar noch vor der Volksabstimmung hat Ihr Kabinettskollege Justizminister Stickelberger auf eine Kleine Anfrage der CDU im Landtag (Drs. 15/616 vom 29.09.2011) dazu Stellung bezogen und betont (S. 4 f.), dass die Geschäftsgrundlage des Vertrags wegbricht, wenn wesentliche Vorstellungen der Vertragspartner, die zur Grundlage des Vertrags wurden, sich als falsch herausstellen, gleichermaßen wenn auch nur eine Partei bei Kenntnis der späteren Änderung den Vertrag nicht oder nur mit anderem Inhalt geschlossen hätte. Ausdrücklich betont er (S. 8): „Wenn aber die Finanzierung den entstehenden Mehrkosten nicht angepasst wird, kann dies dazu führen, dass die Geschäftsgrundlage entfallen ist.“

  2. In der mündlichen Verhandlung vom 17.07.2013 zum zweiten Bürgerbegehren, an der ich mitwirkte, hat das Verwaltungsgericht Stuttgart keinen Zweifel daran gelassen, dass es die dort bereits mit Beweisanträgen untermauerte „neue Lage“ für beachtlich im Sinne des „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ nach § 60 VwVfG hält und dem nur deshalb nicht nachgehen konnte, weil diese Frage bei der damaligen Unterschriftensammlung zur verfassungswidrigen Mischfinanzierung noch nicht thematisiert werden konnte.

  3. Selbst Bahnchef Dr. Rüdiger Grube hat nach dem 12.12.2012 die geschilderte Rechtslage anerkannt und erklärt, man brauche jetzt eine neue Finanzierungsvereinbarung, zu der es bekanntlich nicht gekommen ist. Das lag daran, dass die im Aufsichtsratsbeschluss der DB AG vom 5. März 2013 genehmigte Anhebung des Finanzrahmens um zwei Milliarden Euro mit der Klageankündigung gegen die Projektpartner gekoppelt war und die fehlende gegenseitige rechtliche Bindungswirkung nicht erzeugt werden kann durch unklare und unverbindliche einseitige Beschlüssse.

  4. Die Juristen zu S 21, federführend Rechtsanwalt Bernhard Ludwig, haben die Rechtslage in dem unter www.juristen-zu-s21.de abrufbaren Dokument „Das Rätsel der Sprechklausel“ sehr genau untersucht und u.a. (S. 1ff.) festgestellt: „Die Projektbeteiligten benötigen zum Weiterbau eine neue Finanzierungsvereinbarung, in der die Baukosten, ein neuer Risikopuffer und die Finanzierungsbeiträge einvernehmlich festgelegt werden“.

Vor diesem Hintergund gleichwohl für S 21 die Volksabstimmung zu bemühen, ist schlicht unredlich, weil ihr spätestens seit der „neuen Lage“ vom 12.12.2012 eine legitimierende Wirkung fehlt.

Genauso verfehlt ist Ihre Berufung auf die im Finanzierungsvertrag (§ 16 Absatz 10) vereinbarte Projektförderpflicht. Wo die Vertragsgrundlage für das Großprojekt weggebrochen ist, lässt es sich nicht verantworten, gleichwohl bei der Reise ins rechtliche Niemandsland „mitzumischen“ und vielleicht gerade dadurch in Mithaftung zu geraten nach dem Motto „mitgegangen mitgehangen“. Auch wenn wir um Ihre derzeitigen koalitionspolitischen Grenzen wissen, sollte Ihre Landesregierung diese Rechtslage beachten. Umso mehr, als es in höchstem Maße um die Treuhänderschaft für das öffentliche Wohl geht, das die Projektbetreiber der Bahn seit 2009 verraten haben, womit derzeit noch die Generalstaatsanwaltschaft Berlin befasst ist.

Abschließend: Sie werden mir, lieber Herr Kretschmann, sicher nicht verraten, warum Sie die S 21-Gegnerschaft für verloren erklären. Bitte prüfen Sie, ob Sie eine solche absurde Behauptung aufrechterhalten. Denn Sie sagen so etwas, obwohl Sie wissen, dass es noch längst keine rechtskräftige Entscheidung beispielsweise über die seit vielen Jahren nicht genehmigungsfähigen Teilabschnitte auf den Fildern, in Untertürkheim, über mehrere Planänderungen, über das derzeit beim VGH laufende Verfahren zur verfassungswidrigen Mischfinanzierung, über den mit dem 4. Bürgerbegehren verfolgten Leistungsrückbau von S 21 u.a. gibt.

Sich für die Wahrheitsfindung und für die Umkehr offen zu halten und koalitionsintern nicht vermeintlichen „Sachzwängen“ bei S 21 zu folgen, stünde Ihnen gut an. In diesem Sinne hatten Sie selbst einmal beim Thema Brandschutz nach dem Bekanntwerden des Gutachtens der Firma Gruner erklärt, da dürfe es „keine Rabatte“ geben.

Warum sollte es einer Landesregierung, die für einen Politikwechsel angetreten ist, nicht vorbehaltlos ohne parteipolitische Engstirnigkeit möglich sein, den ganzen Murks der Bahn gewissenhaft zu prüfen und sich zu entscheiden, ob sie das alles noch will. Aber – ich räume es ein – das wäre dann schon ein „Wunder“, von dem Sie früher sprachen und an dessen „Niederkunft“ wir S 21-Gegner weiter nachhaltig, nüchtern und zielbewusst auf allen Ebenen arbeiten.

Mit freundlichem Gruß

Eisenhart von Loeper
Sprecher im Aktionsbündnis